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Nachdem Kant seine berühmten Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?, gestellt hatte, fasste er diese Fragen zusammen in der einen entscheidenden Frage: Was ist der Mensch? Seit das christliche Menschenbild durch die Widerlegung der Gottesbeweise problematisch geworden war, haben die bürgerlichen Philosophen ihre Ansicht vom Menschen vor allem auf die Natur des Menschen gegründet. Mit "Natur des Menschen" ist sein Wesen gemeint, seine überhistorische Konstitution, die anthropologische Konstante im Wandel der Gesellschaften und Epochen. Ist der Mensch göttlich? Sein: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders", beförderte die Freiheit in Deutschland, die Loslösung von Rom und von dem katholischen Dogmatismus. Das Ende des Dogmatismus war auch eine Voraussetzung der Freiheit der Naturwissenschaft, diese wurde aus der Magd der Theologie zur selbstständigen Diziplin.
Oder ist der Mensch ein Stück Staub im Kosmos? Mumie aus dem Dom von Bremen. Nach Thomas Hobbes ist das menschliche Leben "einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz". Doch wenn jedes Jahrhundert eine andere Vorstellung vom Menschen hat, dann gibt es vielleicht gar keine feste Bestimmung des Menschen.
Zur ideologischen Funktion der modernen Anthropologie schreibt Max Horkheimer: "Die moderne philosophische Anthropologie entspringt demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung , vor allem der Tradition als unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens, begriffliche Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie. Sie wird vor allem durch den widersprüchlichen Umstand bedingt, daß in der neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet wird, ohne daß doch die Voraussetzung der Autonomie, die durch Vernunft geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Leben, das "Wertgesetz", nicht als Motor der menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und die ganze Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln. Andererseits haben diese Individuen es gelernt (...) Gründe zu fordern. Sie wollen wissen, warum sie so und nicht anders handeln sollen, und verlangen eine Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische Sinngebung zu steuern. Anstatt den Anspruch der Individuen nach einem Sinn des Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklärt sie die Gegenwart, indem sie die Möglichkeit des "echten Lebens" oder gar des "echten" Todes zum Thema wählt und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt." (Zitiert nach: Anthropologie als philosophische Reflexion über den Menschen, hrsg. v. A. Müller und A. Beckermann, Münster, 1978, S. 96 f.) Bei der Bestimmung des Menschen durch die Anthropologie hat man sich aber nicht mit so banalen Konstanten begnügt wie z.B., dass der Mensch als gesunder vier Glieder und einen Kopf hat, sich Nahrung zuführen muss usw. Denn diese anthropologischen Konstanten begründen noch keine differenzierte Auffassung vom Menschen. Eine solche ist aber notwendig, will man statt von einem Gott aus der Natur des Menschen einen "Sinn" des Lebens begründen oder den homo oeconomicus des aufstrebenden Kapitalismus ableiten. Jede differenzierte Auffassung vom Menschen, die sich als dessen Natur ausgibt und die über unstrittigen Fakten der Biologie hinausgeht, steht aber im Verdacht, ein historisch Gewordenes in ein überhistorisch Anthropologisches umzudeuten. Schaut man genau hin, dann zeigt sich, dass jedes Jahrhundert sein eigenes "Menschenbild" hatte. Die aposteriori (aus Erfahrung) gewonnene Auffassung vom Menschen wird als apriorische (allein aus dem Denken erschlossene) ausgegeben, wie Hegel sagt. Traditionell wurde der Mensch definiert als "vernunftbegabtes und soziales Lebewesen". "Vernunftbegabt" ist die Besonderheit (spezifische Differenz), die unsere Spezies von anderen Arten von Lebewesen wie z.B. den Tieren unterscheidet. Die spezifische Differenz "vernunftbegabt" lässt sich aber nur inhaltlich bestimmen im Vergleich zu anderen vernunftbegabten Lebewesen. Von solchen aber wissen wir nichts, und ob es sie überhaupt gibt, kann keiner sagen. Wären wir noch Platoniker, dann gingen wir von einer fertigen Vernunft aus, die wir nur noch in uns zu entdecken brauchten. Doch die Entwicklung der Philosophie hat gezeigt, dass die menschliche Vernunft selbst prozesshaft ist, also bisher unabgeschlossen, also nach vorn in der Zeit offen in ihrer Entwicklung ist. Selbst die sublimsten logischen und erkenntnistheoretischen Bestimmungen der Vernunft haben noch einen Bezug zur sozialen Wirklichkeit, verändern sich mit dieser oder präzisieren sich doch zumindest, wenn neue gesellschaftliche Erfahrungen gemacht werden. Die Natur des Menschen lässt sich deshalb nicht endgültig bestimmen, sie ist prinzipiell veränderbar und offen in den Horizont der Geschichte, sowohl positiv wie negativ. Kant hat daraus den Schluss gezogen, dass wir bestimmen müssen, was die Natur des Menschen sein soll, und man könnte hinzufügen, wie seine Triebstruktur und der Primat der Vernunft in ihm organisiert sein muss, damit das Fortschreiten der menschlichen Gesellschaft zur Moralität, d.i. ein Zustand friedlichen Zusammenlebens der Menschheit nach vernünftigen Regeln, und zu solidarischen Beziehungen möglich wird. Dies meint der Begriff "Humanität". Zurück zum Anfang des Kapitels
Der Atomphysiker Fermi, der am Bau der ersten Atombombe beteiligt war, soll gesagt haben, er habe nur "schöne Physik" betrieben. Das Resultat seiner "schönen Physik", die beiden Atombomben-Abwürfe auf Hiroschima und Nagasaki, waren ca. 300 000 Tote. Die meisten Naturwissenschaften gehen von der "Wertfreiheit" ihrer Wissenschaft aus und sehen ihre Verantwortung bestenfalls darin, auf die Folgen hinzuweisen, die ihre Resultate haben können. Dem steht eine andere Gruppe gegenüber, welche die Naturwissenschaft nicht als neutrale Wissenschaft betrachtet, sondern in ihr Werte walten sieht, so dass sie zugleich ihre Objektivität bestreitet.
Bedeutung präskriptiver Sätze Wo die Wahrheit liegt, kann wie so oft nur die Analyse der Einzelheiten klären. Gegenstand der Naturwissenschaften sind die Gesetze der Natur. Soll die Naturwissenschaft "wertfrei" sein, dann müsste sie sich auf die Darstellung dieser Gesetze beschränken. Sie bestünde nur aus deskriptiven (beschreibenden) Sätzen ohne präskriptive (Handlung vorschreibender) Sätze zur Hilfe zu nehmen. Nun lassen sich naturwissenschaftliche Einsichten nicht ohne präskriptive Sätze darstellen. "In den Texten der theoretischen wie in denen der experimentellen Disziplinen der Naturwissenschaften finden sich präskriptive Sätze als integrale Bestandteile. Jedem mathematischen Beweis ist die Anweisung zur Konstruktion des Gegenstandes von dem etwas bewiesen werden soll, vorangestellt, jeder Beweis beginnt mit einem 'Es sei...'. Jede Darstellung eines eindeutigen Zusammenhangs von Naturerscheinungen beginnt mit der Vorschrift für die Ausführung des Experiments, durch das er zu erhalten ist, und diese Vorschrift ist keine Beschreibung von Sachverhalten, sondern eine Anweisung zu Handlungen, deren Resultat der beschreibbare Sachverhalt ist." (P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Ffm. 1973, S. 118 f.) Präskriptive Sätze sind keine Beschreibung von Handlungen, sondern antizipieren diese. Damit solche Handlungen tatsächlich ausgeführt werden oder werden können, sind gesellschaftliche Bedingungen vorausgesetzt, von denen die Realisierung dieser Handlungen abhängt. Gesellschaftliche Bedingungen sind von ökonomischen, rechtlichen und moralischen Entscheidungen bestimmt, also nicht "wertneutral". Damit ist aber auch die Naturwissenschaft nicht ohne handlungsleitende Zwecke denkbar.
Vernunft als Voraussetzung Wollte man eine Naturwissenschaft gründen, die nur auf Sätzen einer Beobachtungssprache ohne theoretische Annahmen basiert, theoretische Annahmen, die nicht den Gegenstand selbst entspringen können, dann wäre Naturwissenschaft auf den äußeren Schein der Dinge reduziert. Weder die Keplerschen Gesetze noch die Gravitationstheorie schon gar nicht die Atomtheorie sind ohne solche theoretischen Annahmen denkbar. Einige dieser theoretischen Annahmen sind z.B. die Regeln der Logik oder die Kategorien des Verstandes, die in keinem Gegenstand außer uns entspringen oder von ihm abgezogen werden können. Und dennoch gehorcht die gesamte Naturwissenschaft der Logik. "Wenn solche theoretischen Annahmen als Projektionen jeder Beobachtung zugrunde liegen - und die Korrektur der Inhalte der theoretischen Annahmen im Verlauf der Geschichte der Wissenschaften ändern an diesem Sachverhalt nichts -, dann muß es eine Instanz geben, die solche Annahmen aus sich heraus setzt." (A.a.O., S. 117) Diese Instanz, das begriffliche Denken, das Kant in Verstand, Vernunft und Urteilskraft unterscheidet, bestimmt mindesten ebenso die erkannten Naturgesetze wie das beobachtbare Material. Das ist der Grund, warum wir beim Experiment nach Kant der Natur nicht als Schüler, sondern als Richter gegenüber treten (siehe oben). Lässt sich aber ein Moralgesetz stichhaltig aus der Vernunft begründen (siehe "Ethik"), dann wäre es ein eklatanter Widerspruch der Vernunft mit sich selber, wenn das Moralgesetz allgemein gilt, nicht aber für die Zwecke der Naturwissenschaft. Eine Vernunft, die diesen Widerspruch zuließe, zerstörte sich selbst. Die Naturwissenschaften als Teil der theoretischen Vernunft und die praktische Vernunft gehören zu einer Vernunft. Nun sagt die Einheit der Vernunft zunächst nur, dass auch die Naturwissenschaften einen ethischen Aspekt implizieren, insofern sie Handlungen vorschreiben, da alle Handlungen unter dem Moralgesetz stehen. Die Einheit der Vernunft sagt aber nicht, dass ihre Resultate moralisch oder unmoralisch wären. (Es geht hier um die Erkenntnis der Natur, nicht um die technische Anwendung der Erkenntnisse.) Zurück zum Anfang des Kapitels
Der implizite Zweck der Naturwissenschaften am Beispiel des Fallgesetzes Fällt ein Stein von der Gestalt eines Menschen (etwa eine Statue) auf die Erde, dann beschleunigt er erst, bis er eine maximale Geschwindigkeit erreicht hat, so dass der Luftwiderstand die Beschleunigung aufhebt. Das gleiche gilt für einen Fallschirmspringer vor dem Öffnen des Schirms, nur dass seine maximale Fallgeschwindigkeit eher erreicht wird und diese auch geringer ist, da er weniger spezifische Masse enthält als der Stein. Denn der Springer hat den Luftwiderstand weniger Masse entgegenzusetzen als der Stein. Eine Bleifigur von der gleichen Gestalt wird eine noch höhere maximale Geschwindigkeit erreichen und eine Daunenfeder eine viel geringere als alle bisher genannten. Sie wird sogar wieder nach oben fliegen, wenn sie ein kleiner Windstoß erfasst. Alle diese Vorgänge lassen sich beobachten, messen und berechnen. Stelle ich mir jetzt eine Säule vor, in der ein Vakuum herrscht, und lasse dann alle diese Gegenstände fallen, dann beschleunigen sie permanent und sei die Vakuumsäule auch sehr hoch. Sie haben alle, auch die Daunenfeder, in einem bestimmten Augenblick die gleiche Geschwindigkeit. Und sie kommen unten alle zugleich an, trotz unterschiedlicher Masse und Gestalt. Dieser Vorgang lässt sich nicht für Menschen ohne Hilfsmittel beobachten. Man brauchte schon eine aufwendige Versuchsanordnung (hohe Säule mit Vakuum) oder einen Punkt im Weltraum, um beobachten zu können, dass die gleichmäßige Beschleunigung anhält bis zu dem Bereich, wo über dem Erdboden im freien Fall durch den Widerstand der Luft die Beschleunigung sich verringert und schließlich kompensiert würde. Und dennoch wird der Fall in der Vakuumsäule als Naturgesetz erklärt, die tatsächlich beobachtbaren Vorgänge aber nicht. Das Fallgesetz lautet: Ein Körper wird von der Erde mit einer Beschleunigung von 9,81 Meter pro Quatratsekunde angezogen. (Kleinere Abweichungen auf Grund unterschiedlicher Gestalt der Erde lassen wir hier außer acht.) Warum gilt dies als Naturgesetz und nicht etwa der Fall einer Bleikugel durch die Luft bei Windstille? Dieser Fall ließe sich ebenfalls exakt messen und berechnen. Als Gründe könnte ein Naturwissenschaftler nennen: - Die Berechnung ist einfacher, wenn man den allgemeinen Fall nimmt und danach erst darauf die Sonderfälle (Luftwiderstand usw.) bezieht. - Das Fallgesetz dieser speziellen Gestalt passt besser mit dem System der Mechanik, insbesondere dem Gravitationsgesetz zusammen. - Hier waltet das, was man im Ausgang des Mittelalters mit Ockham als Rasiermesser bezeichnet hat: Wenn es verschiedene Möglichkeiten der Erklärung von Phänomenen gibt, dann wähle man die einfacherer und klarere aus. - Alle anderen Vorgänge sind zu umständlich, um sie als Naturgesetz auszugeben, d.h. zu unrationell. Die Naturwissenschaft will also keine umständlichen Gesetze aufstellen, um sich an deren Umständlichkeit zu erfreuen, sozusagen als Geheimwissenschaft, um sich von anderen Nichteingeweihten sozial abzugrenzen, sondern sie will rationell sein, die Problematik so einfach und klar wie möglich darstellen, um, ja um die Natur zu beherrschen. Die Beherrschung der Natur oder doch von Teilen der Natur ist der implizite Zweck der modernen Naturwissenschaften. Das Beispiel "Fallgesetz" lässt sich verallgemeinern, weil auch die Konstruktion der anderen Gesetze der Natur diesen Zweck implizieren. Wenn aber der implizite Zweck der Naturwissenschaften die Naturbeherrschung ist, dann besteht ein immanenter Zusammenhang von Naturwissenschaft und Ethik. Denn die menschlichen Zwecke sind der Gegenstand der Ethik. Sie prüft alle menschlichen Zwecke, ob sie mit dem Moralgesetz, keinen Menschen als bloßes Mittel zu behandeln, sondern immer auch als Zweck an sich selbst, verträglich sind. Zurück zum Anfang des Kapitels
Die Verantwortung des Wissenschaftlers Ein Zweck ist aber zunächst nur Gedanke. Der Zweck ist die antizipierte Ursache, deren Wirkung ein Objekt ist, das dem Zweck entspricht. Zwischen dem Zweck und seiner Realisierung liegen die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Handeln stattfindet. Sind diese antagonistisch (notwendig widersprüchlich) wie in der kapitalistische Produktionsweise, dann ist auch der implizite Zweck der Naturwissenschaften in seiner Wirkung widersprüchlich. Nicht dass die Resultate der Naturwissenschaften falsch wären, ist das Problem, sondern ihr impliziter Zweck macht aus den naturwissenschaftlichen Resultaten, den erkannten Gesetzen der Natur, sowohl Produktiv- wie Destruktivkräfte. Diese Resultate erleichtern einmal das menschliche Leben und sind zugleich der Grund für seine Zerstörung. Sie bringen auf ihrer subjektiven Seite geniale Forscher hervor, die oft in derselben Person zu erfinderischen Zwergen werden, die zu allem zu gebrauchen sind. Ein besonderes Beispiel ist der Chemiker Haber, der im 1. Weltkrieg für die deutsche Seite das Giftgas entwickelt hat (mit Hunderttausend Toten als Folge) und dann von derselben Nation, der er zu dienen glaubte, in den Selbstmord getrieben wurde, weil er Jude war. Das Problem, das sich einem moralisch verantwortlich denkenden Naturwissenschaftler angesichts dieser Zwiespältigkeit seiner Wissenschaft stellt, ist nicht individuell zu lösen, weil die allgemeinen Bedingungen des Handelns die Ursache für diese widersprüchliche Wirkung der Naturwissenschaften sind. Erst in einer solidarischen Gesellschaft, die ihr Beziehungen rational nach einem verabredeten Plan als Verein freier Menschen regelt, hätte der implizite Zweck der Naturwissenschaften nicht mehr seine destruktive Wirkung. Die Gattungsvernunft, die sich in den Naturwissenschaften ausdrückt, wäre wirklicher "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel) gegenüber der unmittelbaren Natur. Solange aber die gesellschaftlichen Verhältnisse selber von der Naturwüchsigkeit des kapitalistischen Marktes bestimmt werden, bedeutet die geforderte "Wertfreiheit" ein Denkverbot, die soziale Funktion der Naturwissenschaften zu reflektieren. Wie sich unter diesen Bedingungen der einzelne Wissenschaftler verhalten soll, hat Adorno schlüssig formuliert: „In unserer Arbeit sind wir, jeder von uns, in weitem Maße nicht wir selber, sondern Träger von Funktionen, die uns vorgezeichnet sind. Nur in Schundromanen werden große medizinische Erfindungen aus Liebe zu den Menschen gemacht, oder große kriegstechnische aus Patriotismus. (...) Es wäre rückständig, eine Art Maschinenstürmerei auf höherer Stufe, wenn man sich so benähme, als wäre der Atomforscher unmittelbar derselbe wie das Individuum Dr. X., das die Forschung ausübt, und als müßten gar seine privaten Überzeugungen eine Art Kontrolle über seine wissenschaftliche Arbeit ausüben. Ein Ethos, das die Erkenntnis bremst, wäre äußerst fragwürdig. Die Trennung gesellschaftlicher und technischer Vernunft läßt sich nicht überwinden, indem man sie verleugnet. Wohl steht es dagegen an, daß gerade der Techniker warnt vor dem Unabsehbaren, das seine Erfindungen heute der Menschheit androhen. Seine Autorität, die Tatsache, daß er diese Potentialien viel besser einzuschätzen weiß als der Laie, werden seiner Warnung größeres Gewicht verleihen, als den von außen kommenden. Ich glaube aber nicht, daß diese Warnungen entscheiden. Ob die moderne Technik der Menschheit schließlich zum Heil oder Unheil gereicht, das liegt nicht an den Technikern, nicht einmal an der Technik selber, sondern an dem Gebrauch, den die Gesellschaft von ihr macht. Dieser Gebrauch ist keine Sache des guten oder bösen Willens, sondern hängt ab von der objektiven gesamtgesellschaftlichen Struktur. Die Technik würde nicht nur befreit werden, sondern auch zu sich selbst kommen in einer menschenwürdig eingerichteten Gesellschaft. Wenn den Techniker heute zuweilen der Horror vor dem überfällt, was mit seinen Erfindungen geschehen mag, so ist es wohl die beste Reaktion auf diesen Horror, zu versuchen, etwas zu einer menschenwürdigen Gesellschaft beizutragen." (Adorno: Über Technik und Humanismus, S. 316 f.; Hervorhebungen vom Lehrbuchautor) Zurück zum Anfang des Kapitels
Die gesellschaftliche Funktion der Naturwissenschaften Seit der Frühneuzeit ist ein ständiger Prozess in Gang gekommen, motiviert durch die beginnende und bis heute andauernde ständige Ausweitung der Produktion, der neue Erkenntnisse auf Erkenntnisse häuft. Ein Wissenschaftler arbeitet dort weiter, wo der andere aufgehört hat. Die Kapitalakkumulation ("Wachstum") äußert sich technisch in Form von ständiger Produktion von Produktivität. Die Naturwissenschaften schaffen dafür die wissenschaftlichen Voraussetzungen. Damit ihre Einzelergebnisse mit anderen Einzelergebnissen und den vorherigen Resultaten zusammenstimmen können, ist die Fachsystematik eine notwendige Bedingung. "Die Systematisierung des Einzelwissens ist die Voraussetzung für die systematische Organisation der Arbeiten der einzelnen Wissenschaftler und für die Instrumentalisierung der einzelnen objektivierten Sachverhalte im weiteren Wissenschaftsprozeß. Zuvor hing der Erfolg wissenschaftlicher Tätigkeiten, z.B. bei der Analyse von Mineralien, wesentlich von den Zufälligkeiten der Begabung, des Geschicks und der lebensgeschichtliche akkumulierten Erfahrung ab. Jeder Wissenschaftler mußte diese Erfahrung im unmittelbaren Umgang mit dem Material selbst sammeln oder seinem Lehrer in persönlichem Kontakt abschauen. (...) Durch die Systematisierung der Untersuchung ist nun deren Ergebnis nicht mehr abhängig vom Geschick und von der Erfahrung dessen, der die Untersuchung ausführt, sondern nur noch davon, daß Versuchsvorschriften genau eingehalten werden. Sie bedarf weder besonderer Erfahrung im unmittelbaren Umgang mit dem Material, noch der Kenntnis der zugrundeliegenden chemischen Prozesse: die Technik der Analyse ist eine durch Einübung zu erwerbende Qualifikation der Arbeitskraft, die gegen die Erkenntnis, der der Elemente und ihrer Reaktionen, selbständig geworden ist." (P. Bulthaup: Fachsystematik und didaktische Modelle, S. 49 f.) Naturwissenschaft zu betreiben ist zur gesellschaftlichen Tätigkeit geworden. Positiv an dieser Entwicklung der Naturwissenschaften ist das darin enthaltene gesellschaftliche Potenzial, nämlich die wachsende Möglichkeit der Emanzipation von der unwirtlichen ersten Natur. Doch die Naturwissenschaften werden von einer Ökonomie angetrieben und in Gang gehalten, deren Zweck nicht Reduzierung der Mühen und die Erleichterung der menschlichen Existenz ist, sondern die Produktion von akkumulierbaren Mehrwert (vgl. "Ökonomie"), so dass die Menschen zum bloßen Mittel dieser Produktionsweise und die Wissenschaftler zu austauschbaren Arbeitskräften werden. Die modernen Entwicklung der Naturwissenschaften unter der Bedingung der naturwüchsigen kapitalistischen Produktion von Produktivität hat die Tendenz zur Umwandlung der Naturwissenschaften in Technologie. "Da die weitere Entwicklung jeder Naturwissenschaft aufbaut auf ihren eigenen Resultaten, diese konstitutiv sind für die jeweils neuen, führen die Akkumulation des normativ-methodischen Moments und dessen technisches Korrelat, das immer aufwendigere Instrumentarium, schließlich zur totalen Vorherrschaft der in Methode und Apparatur vergegenständlichten Arbeit über die lebendige wissenschaftliche Arbeit. Nach dem ihr immanenten Entwicklungsgesetz transformiert sich jede Naturwissenschaft in Technologie." (P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, S. 50) Denkt man sich diese Tendenz radikal zu Ende, dann führt sie zum Untergang der Spezies Mensch: Die Anhäufung der Destruktivkräfte reicht schon lange aus, die Spezies auszulöschen. In Verbindung mit der immanenten Möglichkeit des kapitalistischen Konkurrenzkampfes, seine politische Fortsetzung mit kriegerischen Mitteln, ist ein Atomkrieg in Zukunft wahrscheinlich. Die Entwicklung der Naturwissenschaft zur Technologie zerstörte im Extremfall sowohl die Naturwissenschaften wie die Technologie. Doch selbst wenn man diese extreme Konsequenz, den Atomkrieg, ausklammert, bleibt diese Möglichkeit durch die Zerstörung unserer Umwelt. Es "kann die weitere anarchische Ausnutzung der technischen Möglichkeiten der Produktion dazu führen, daß die Lebensbedingungen der Menschen sich so weit verschlechtern, daß das Überleben der Gattung ernsthaft in Frage gestellt ist. Auch das hieße, daß die fortschreitende Realisierung technischer Möglichkeiten dazu führt, daß mit der menschlichen Gattung auch deren Technik verschwände, die Realisierung der technischen Möglichkeiten zugleich die Negation von technischen Möglichkeiten überhaupt bedeutete. Die durch ein naturwissenschaftliches Studium qualifizierten Arbeitskräfte würden ohne ihren Willen zu Ingenieuren des Untergangs der Gattung, und die Wertneutralität der Resultate der Wissenschaft schlösse die strikte Neutralität gegen die Vernichtung der Menschheit ein." (A.a.O., S. 18 f.) Da die Naturwissenschaftler heute untrennbar verquickt sind mit der naturwüchsigen Kapitalakkumulation und ihren destruktiven Möglichkeiten, haben linke Kritiker und reaktionäre Umweltschützer den Naturwissenschaften den Anspruch auf Objektivität und Wahrheit abgesprochen. Sie treffen sich in diesem Punkt mit den Apologeten des Kapitalismus. "Gegen alle Denunziationen der bürgerlichen Wissenschaft muß der Materialist den objektiven Fortschritt, der in der bürgerlichen Wissenschaft sich niederschlug, festhalten und gegen ihre spätkapitalistische Verfallsform verteidigen. So wichtig Hinweise auf die Bedeutung der Naturwissenschaften für den Verwertungsmechanismus des Kapitals sind, so würde doch der Kritik an diesem Verwertungsmechanismus der Boden entzogen, wenn er zur einzigen oder doch zur einzig wesentlichen Bestimmung der Wissenschaft erklärt würde. Die Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft ist nicht abstrakte Negation und hat den Anspruch der bürgerlichen Wissenschaft auf Objektivität und Wahrheit festzuhalten, sonst wird sie selbst reaktionär." (P. Bulthaup: Fachsystematik und didaktische Modelle, S. 42) Die Tendenzen der Naturwissenschaften haben Auswirkungen auf ihre subjektive Seite. Die Folge für Schüler, Studenten, Lehrer und Wissenschaftler ist zunächst eine unübersehbare Stofffülle, die nur gesellschaftlich bewältigt werden kann durch Spezialisierung. Naturwissenschaftler werden dadurch tendenziell zu Fachidioten ausgebildet, d.h. sie haben ein hochgezüchtetes Spezialwissen und leben ansonsten geistig von den herrschenden Vorurteilen, sind also geistig verkrüppelt. Sie sind austauschbare Arbeitskräfte, beliebig instrumentalisierbar, soweit sie kreativ sein müssen, sind sie zu "erfinderischen Zwergen" (Nietzsche) geworden. Da Menschen ihr Denken auch zur Reflexion ihrer Situation verwenden können, ist diese technokratische Beschränkung des Bewusstseins nicht zwangsläufig. Sie kann aufgehoben werden. "Naturwissenschaftliche Bildung, nicht als die selbstverständlich vorauszusetzende Kenntnis der Methoden und Resultate einzelner Disziplinen, sondern als deren Reflexion, die die Funktion dieser Methoden und Resultate im Wissenschaftsprozeß wie im Reproduktionsprozeß der Gesellschaft begriffe, könnte diese Aufhebung leisten. Nur wenn Naturwissenschaftler nicht nur ihre unmittelbare Forschung vorantrieben, sondern zugleich diese Forschung in ihren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Implikationen reflektierten und so die Vernunft begriffen, als deren blinde Agenten sie agieren, vermöchten sie dazu beizutragen, die drohende Katastrophe abzuwenden. 'Am Ende des Fortschritts der sich selbst aufhebenden Vernunft bleibt ihr nichts mehr übrig, als der Rückfall in die Barbarei oder der Anfang der Geschichte.'" (P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, S. 26) Zurück zum Anfang des Kapitels Wenn Sie unseren Vorschlägen gefolgt sind, dann können Sie jetzt mit der Logik fortfahren. Falls Sie die Kurse der praktischen Philosophie noch nicht durchgearbeitet haben, dann empfehlen wir mit dem Kurs Ökonomie zu beginnen und dann zur Ethik und Politik überzugehen.
Informationen zum Weiterstudium: Zur tieferen Beschäftigung mit naturphilosophischen Problemen empfehlen wir die unten angegebene Literatur, insbesondere die Schriften von Peter Bulthaup, auf die wir uns im Wesentlichen bezogen haben.
Adorno: Über Technik und Humanismus. Gesammelte Schriften. Bd. 20.1, Ffm. 1986. Aristoteles: Physik, übersetzt von Zekl, Hamburg 1988. Atkins, Kenneth R.: Physik. Die Grundlagen des physikalischen Weltbildes. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin, New York 1986. Biologie. Ein Lehrbuch. Dritte, völlig neubearbeitete Auflage korrigierter und ergänzter Nachdruck. Hrsg. v. G. Czihak, H. Langer, H. Ziegler, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo 1884. Bulthaup, Peter: Fachsystematik und didaktische Modell, in: Naturwissenschaftliche Didaktik zwischen Kritik und Konstruktion, Weinheim, Basel 1975. (Jetzt neu bei zu Klampen, in: Peter Bulthaup: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, Lüneburg 1998. Bulthaup, Peter: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Ffm. 1973. (Jetzt neu bei zu Klampen: Lüneburg 1996.) Jammer, Max: Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt 1981. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg 1976. Holleman, Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie, Berlin, New York 1985.
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