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Über das Lesen 

       philosophischer Texte

 

Für philosophische Schriften gilt allgemein, sie seien  schwer zu lesen, nicht weil sie schwieriger sind als andere wissenschaftliche Texte, sondern weil man an sie nicht den Maßstab wahrer Darstellung der Sache anlegt, sondern den von Unterhaltungslektüre oder Zeitungsartikeln.

Jeder Anfänger hat die Schwierigkeit, die Sache nicht zu kennen, die er sich erlesen will, und dadurch maßstabslos sich auf die Lektüre einlassen zu müssen. Diese Schwierigkeit muss ihm aber zugemutet werden, ohne seine intellektuelle Aufgeschlossenheit lässt sich kein philosophisches Werk aneignen. 

     Adorno zur Sprache der Philosophie

Von der Sprache der Philosophie gilt, was allgemein von Sprache gilt:  Sie ist Ausdruck der Sache und Mitteilung. Beide Momente sind ineinander verwoben. Wenn es aber zum Konflikt kommt zwischen sachlicher Darstellung und der Schwierigkeit, die Sache zu kommunizieren, gilt für die Sprache der Philosophie, die keine Ideologie, sondern Wissenschaft sein will: "Lieber wird sie unverständlich, als die Sache durch Kommunikation zu verunstalten, welche daran hindert, die Sache zu kommunizieren." (Adorno)

   Entfremdetes Lesen

Wer sein Lesen an den geschafften Seitenzahlen orientiert, hat von vornherein seine Unwilligkeit erklärt, sich auf die Sache einzulassen. Die erstrebte Leistung, ein Buch oder einen Aufsatz zu "schaffen", verhindert die Leistung, auf die es ankäme: sich die im Text enthaltenen Gedanken anzueignen. Der Erfolg der Mengenleistung ist  in der Regel der, angeberisch mit halbverdauter Lektüre zu protzen und Bescheid zu wissen, indem man mit zufällig erinnerten Worten in der Diskussion glänzen kann. Der wahre Erkenntnisgewinn aus philosophischer Lektüre liegt aber darin, dass uns diese über die Wirklichkeit aufklärt.

   Klarheit und Deutlichkeit

Von der Philosophie selbst wurde Klarheit und Deutlichkeit der Sprache gefordert. Dies meint aber nicht, dass die Texte sofort jedem verständlich wären, sondern den präzise herausgearbeiteten Unterschied der Gegenstände des Denkens. Für Descartes war deshalb die Arithmetik die klarste und deutlichste Wissenschaft. Demgegenüber muss jedoch eingeschränkt werden, dass die Wirklichkeit nicht statisch  ist, sondern prozesshaft

   Sprache und Dialektik

Die Sprache einer Philosophie, die den Wirklichkeitsprozess ausdrücken will, verliert dadurch an solcher Klarheit. So ist z.B. in der Marxschen "Kritik der politischen Ökonomie" der Begriff des Kapital definiert als "Wert, der sich selbst verwertet"; im Prozess der Kapitalbildung, d.h. in den Fabriken, zeigt Marx jedoch, dass es die Arbeiter sind, die Kapital erzeugen, so dass die obige Definition modifiziert werden muss: mit der prozesshaften Entwicklung des Kapitals muss sich auch der Begriff des Kapitals modifizieren. Das macht die Schwierigkeit der wirklich die Sache erfassenden Sprache aus, um die niemand in der Lektüre herumkommt, wenn er seine Welt begreifen und nicht bloß in subjektiver Weltanschauung verharren will. 

   Reflexion tradierter Texte

Das Besondere philosophischer Lektüre liegt darin, dass Wahrheit nur in der Reflexion der tradierten Texte erkennbar ist. Gedanken, die uns die Philosophen überliefert haben, über die Lektüre von Sekundärliteratur aufzunehmen, scheint um ein vielfaches leichter zu sein als die Lektüre der Primärliteratur (bzw. deren Übersetzung). Doch der Vorteil ist nur scheinbar vorhanden. Jede Wiedergabe eines philosophischen Quellentextes ist immer schon eine Interpretation, der moderne Interpret hebt anderes hervor als das Original enthält, selbst wenn er den Text nicht verfälscht. Der Leser, der lediglich Sekundärliteratur liest, bleibt von vornherein unmündig, weil er sich Interpreten ausliefern muss, nicht aber selbst mit dem Ursprung des Gedankens konfrontiert ist. Sekundärliteratur hat deshalb nur Sinn als begleitende Lektüre, um das Lesen von Primärliteratur zu erleichtern. Diese ist der Maßstab für die Sekundärliteratur, nicht umgekehrt.

   Lesen als schöpferischer Akt

Jedes bewusste Aufnehmen von Gedanken ist ein schöpferischer Akt, der nicht mit Regeln gelenkt werden kann; trotzdem können Maximen dazu dienen, um beim Lesen schwieriger Texte zu helfen: 

1. Lektüre setzt Muße voraus, d.h. hier vor allem das ungestörte Zurückziehen mit dem Text. Am Bildschirm kann man dies nicht. Deshalb drucken Sie sich diesen Text aus, z.B. indem Sie die Seite invertieren und dann diesen markierten Text ausdrucken, um ungestört lesen zu können. (Der ganze Einführungskurs lässt sich ausdrucken.)

2. Lesen verlangt minutiöse Versenkung in die Lektüre - und zugleich - die freie Distanz zu ihr. Diese widersprüchliche Haltung muss jedem ernsthaften Leser zugemutet werden. 

   Der hermeneutische Zirkel

3. Details sind nur verstehbar durch die Kenntnis des Ganzen und das Ganze ist nur durch die Kenntnis der Details verständlich. Das setzt unbedingt die mehrfache Lektüre voraus.

4. Lernen und kritisches Prüfen philosophischer Texte ermöglicht vor allem die schriftliche Reproduktion des Argumentationsganges - im Idealfall wird daraus ein Kommentar. Dieser erklärt und erläutert die Aussagen, stellt sie in die Reihe der philosophischen Entwicklung der Wahrheit und hebt ihren Gehalt hervor.

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Copyright © 2004 Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik        
Stand: 09. März 2008